Einigen Überlegungen, die ich im letzten Artikel angestellt habe – daß so etwas wie ein Ich zwar Teil des Spiels, aber im Grunde genommen nicht existent ist – gehen auch Diplom-Biologe Werner Siefer und Politologe Christian Weber nach; beide sind Wissenschaftsredakteure beim Focus und begeben sich in ihrem Buch ICH. Wie wir uns selbst erfinden (Campus 2006) auf einen interdisziplinären Streifzug durch die aktuellen Erkenntnisse der Psychiatrie, Evolutionstheorie, Entwicklungspsychologie, Soziologie, Gedächtnisforschung, Neurowissenschaft, Philosophie und Theologie – und kommen zu einem kompromißlosen Ergebnis (S. 252f.):
Die erste Erschütterung des menschlichen Selbstwertgefühles ist mit den Entdeckungen Nikolaus Kopernikus’ (1473–1543) verknüpft. Sie bestand in der Einsicht, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern sich um die Sonne dreht – was die Schriften des Entdeckers flugs auf den Index der katholischen Kirche brachte. Charles Darwin (1809–1882) verscheuchte den Menschen aus dem Paradies, indem er uns als Nachfahren von Affen beschrieb. Gegen diese zweite Kränkung rebellieren bis heute amerikanische fundamentalistische Christen […] mit zunehmendem Erfolg. Wenig bescheiden schrieb sich Sigmund Freud (1856–1939) die dritte Kränkung selbst auf die Fahnen, indem er bezweifelte, dass der Mensch „Herr im eigenen Haus ist, sondern auf die kärglichen Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht“. Freud kratzte an unserer Vorstellung von Autonomie und freien Entscheidungen.
[Der Philosoph Thomas] Metzinger, Jahrgang 1958, kippt unser verbliebenes ptolemäisches Selbstbild. Damit ist die hartnäckige Illusion gemeint, dass es in uns einen Kern gibt, um das sich die Welt dreht. Etwas, das über die Zeit hinweg identisch bleibt – von einer Seele im Freudschen Sinn ist in der wissenschaftlichen Literatur ohnehin längst nicht mehr die Rede. „Eine der Grundaussagen der Theorie ist, dass es so etwas wie Selbste in der Welt nicht gibt: Selbste gehören nicht zu den irreduziblen Grundbestandteilen der Wirklichkeit. Was es gibt, ist das erlebte Ichgefühl und die verschiedenen, ständig wechselnden Inhalte des Selbstbewusstseins – das, was die Philosophen das ‚phänomenale Selbst‘ nennen“, so Metzinger […]. Das bedeutet nicht weniger, als dass sich das Konzept des Selbst in Luft auflöst. Dass dies dem Publikum missfallen könnte, ahnt der Revolutionär bereits und bedauert, dass „die Ergebnisse der Philosophie nicht immer erbaulich sind“.
Das Ich: eine Illusion – diese Botschaft aus der Denkerstube will so gar nicht in eine Zeit passen, in der Privates in der Öffentlichkeit ausgebreitet wird wie nie zuvor. Oder gerade doch? Vielleicht läutet sie still und leise das Ende des unverschämten Kreisens um sich selbst ein …
