Ich trete ja immer stark dafür ein, daß Spiritualität und Alltag nicht entkoppelt werden dürfen. Das führt einerseits dazu, sowohl mich selbst und meine Mitmenschen als auch den Alltag aus der Perspektive einer erweiterten Wirklichkeit zu betrachten … andererseits aber auch gleichermaßen zu einer Wahrnehmung scheinbar vollkommen alltäglicher Dinge als Ausdruck des All-Einen. Oder, wie es Zen-Meister Brad Warner in seinem Buch Hardcore Zen. Punk Rock, Monsterfilme & und die Wahrheit über alles so wunderbar ausdrückt (S. 13f.):
Hier ist eine meiner Überzeugungen: Alles ist heilig. Jeder Grashalm, jede Küchenschabe, jedes Staubkorn, jede Blume, jedes Schlammloch vor einem Graffiti besprühten Lagerhaus ist Gott. Jeder Gegenstand ist ein der Verehrung würdiges Objekt. Wenn du dich nicht vor einem überfahrenen Tier auf der A3 verbeugen kannst, das bereits verwest, hast du kein Recht, in Leder gebundene Wälzer und Marmor-Ikonen in bunten Glaskästen zu verehren.
Und hier ist noch eine: Alles ist profan. „Den Planeten retten“ ist reine Zeitverschwendung und die Umwelt zu erhalten Energievergeudung. Blumen stinken und Vogelgezwitscher ist nervtötender Lärm.
Andererseits ist nichts heilig und auch nichts profan. Nicht mal dein erbärmlicher Arsch. […] Du kannst Gott unmöglich ehren, wenn du nicht dazu fähig bist, jede einzelne seiner Erscheinungsformen zu ehren.
Das erinnert mich an eine wichtige Erfahrung, die ich im Ashram von Babaji gemacht habe … und an den Lieblings-Zen-Meister aus meiner Kindheit: Beppo Straßenkehrer.
Vielleicht liegt es ja an meiner grundsätzlichen Faulheit, aber ich hab nie ganz eingesehen, weshalb ich nach einer speziellen Technik meditieren sollte – wenn sich doch ständig und überall Gelegenheiten auftun, bewußt, liebevoll und achtsam im Hier und Jetzt zu sein: Beim Zähneputzen. Beim Staubsaugen. Beim Geschirrspülen. Beim Zuhören. Beim Autofahren. Beim Tippen dieser Buchstaben.
Ich bin davon überzeugt, daß buchstäblich ALLES einen dazu führen kann, sich der ursprünglichen Einheit zu erinnern und in einen Zustand einzutreten, von dem aus jeder Ausdruck des Göttlichen geachtet und kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen „spirituell“ und „weltlich“, zwischen Straßenkehren und dem Chanten von Mantras, und von dem aus das „Höchste“ und das „Niedrigste“ verbunden werden, oder, wie es wohl in einigen alchemistischen Traditionen heißt: die Kerze von beiden Seiten her angezündet wird.
Perhaps it’s time to demystify the mystical. Perhaps it’s time to bring God down to Earth. For that is where God is. On Earth. As It is in Heaven.
Once we understand and truly know that God is right here, right now, the space of the Here and Now is wide open to the most extraordinary possibilities.
Vielleicht ist es an der Zeit, das Mystische zu demystifizieren. Vielleicht ist es an der Zeit, Gott auf die Erde zu bringen. Denn das ist, wo Gott ist. Auf Erden. Wie im Himmel.
Wenn wir einmal begreifen und tatsächlich wissen, daß Gott genau hier, genau jetzt ist, eröffnet der Raum des Hier und Jetzt die außergewöhnlichsten Möglichkeiten.
(Aus: Neale Donald Walsch, When God Steps In, Mircales Happen, Hampton Roads, Charlottesville 2011, S. 189, Übersetzung von mir.)
Eine der schönsten dieser ‚Pforten zur Göttlichkeit‘ ist für mich die Sexualität. Wie kaum etwas anderes in diesem Spiel hier wird sie von vielen Menschen und Institutionen, die sich für überaus spirituell halten, abgewertet und geschmäht oder wenigstens verschiedene ihrer Ausdrucksformen in Schubladen gesteckt, auf denen das Etikett „verboten“ prangt (auch, wenn es sich um etwas handelt, das mit voller Zustimmung aller erwachsenen Beteiligten geschieht). Mir zumindest erschienen sexuelle Erlebnisse so gut wie immer als wunderbare Angebote, mich spielerisch mit anderen Menschen zu verbinden, wenn nicht gar den Anlaß zu nutzen, miteinander das Göttliche am Menschsein zu feiern, und im Traum zu erwachen – und nein, das waren keineswegs immer hochspirituelle tantrische Begegnungen, sondern meist einfach schöne, leidenschaftliche, geile, lustvolle Vögeleien!
DAS läßt sich eben überall finden; nicht nur in geweihten Tempeln oder unberührten Stellen in der freien Natur, sondern auch auf dem Zahnarztstuhl … oder im Bordell. Vor einigen Monaten hat mir ein Freund die folgenden Zeilen geschickt, die mich sehr beeindruckt haben:
Möcht noch was Kleines erzählen, hab grad den Impuls dazu.
In einem der Bordellchen, wo ich mich oft aufhalte, da ist eine mittelalterliche Frau. Sie ist so dünn wie ich, verkauft ein bisschen Essen und Zigaretten, raucht, wäscht ihre Wäsche, ist einfach da. Mal lustig. Mal müde. Mal anhänglich. Mal ablehnend. Oft schon hab ich gedacht: Die ist erleuchteter als alle meditierenden und flüsternden oder schweigenden Ashrambesucher zusammengenommen.
Nichts gegen Momente der konsequenten inneren Einkehr, ich bin überzeugt, dass ich/du/wir das brauchen.
Aber die Ashrambetriebe (das gleiche hab ich in Eso-Kursen oft beobachtet), wo die Menschen sich gegenseitig zeigen, wie ach so respekt- und liebevoll, wie demutsbeflissen und so weiter sie doch schon sind, die sind für mich heute blöder als jedes Bordell – wo Menschen authentisch das tun, was eben gerade an ihrem Lebensweg zu bewerkstelligen ist, und wo die Menschen sich genau so geben, wie sie grad drauf sind und wo Menschen sich gegenseitig spontan und aus natürlicher Lebensfreude heraus untereinander das Leben lebenswert machen.
Eine Freundin wird das bestätigen. Als sie hier bei mir war, da wollte sie so ein Bordell mal selber erleben. Ich fragte erst Mädels und Chefs, ob es in Ordnung sei, wenn ich Altknacker mit meiner altknackerigen Freundin zusammen komme. Allgemeines Staunen und Lachen: Ja aber selbstverständlich ist das in Ordnung, komm du mit deiner Freundin vorbei.
Ihr Kommentar nach einigen Stunden: „Ich räume mit einem Vorurteil auf. So freundlicher, familiärer Umgang, das habe ich nicht erwartet. Der Menschen Freundlichkeit untereinander – oh, ich kann dich verstehen, dass du dich oft hier aufhältst.“
Die Welt ist ein Spiegel, heißt es oft. Und der lächelt erst, wenn derjenige lächelt, der hinein schaut. Sieht man die Welt als Gefängnis oder Schulungsraum, wird sie einem genau das reflektieren. Ich für meinen Teil betrachte sie als Spielfeld; und mein Leben ermöglicht mir ungleich mehr Freiheit, Poesie und Intimität, seit ich mir erlaube, mich in Das, Was Ist, zu verlieben (anstatt davor flüchten zu wollen) und die Blüten des Seins mit offenem Gewahrsein willkommen zu heißen.