Als Kind liebte ich die Fernsehserie Kung Fu. Vor allem beeindruckten mich die Rückblenden ins Shaolin-Kloster, in denen parabelhafte Lehrgeschichten aus der Novizenzeit des Kwai Chang Caine gezeigt wurden, doch natürlich war ich (wie vermutlich die meisten, die in den 70ern und 80ern aufgewachsen sind) auch extrem fasziniert von den Kampfkünsten. Als ich mit meiner Familie in den Sommerferien im Freibad war und ein paar meiner Schulkollegen ganz aufgeregt auf mich zukamen, und mir begeistert mitteilten, daß beim Restaurant ein Kung-Fu-Film liefe, war ich denn auch sofort Feuer und Flamme: Ich rannte mit ihnen zu einer Reihe merkwürdig aussehender Fernseher, vor denen die großen Jungs standen und Knöpfe und Hebel bedienten. Ganz geheuer war mir das Ganze nicht – der Film wirkte seltsam und fremdartig und die Handlung schien sich laufend zu wiederholen … aber dennoch standen wir ehrfürchtig vor den Bildschirmen und bestaunten den „Kung-Fu-Film“:
Erst ein, zwei Jahre später verstand ich, was ich dort gesehen hatte. Bis dahin hatte mir einfach niemand erklärt, was ein Konsolenspiel war – aus dem einfachen Grund, weil auch keiner meiner Familienmitglieder oder Freunde selbst jemals eins gesehen hatte! Unser Filter erlaubte uns zu diesem Zeitpunkt nur, ein Arcade-Game mit dem zu vergleichen, was ihm für uns am nächsten kam, nämlich einem Fernseher. Aus heutiger Sicht empfinde ich das natürlich als niedlich bis naiv … aber es brachte mich zur Überlegung, was wir denn noch so alles momentan nur durch unseren Filter und dadurch verzerrt wahrnehmen können. (Hat hier jemand UFOs gesagt?)
Bei der Beschäftigung mit dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung stößt man unweigerlich mal auf das folgende Experiment (bitte vor dem Weiterlesen unbedingt bis zum Ende ansehen!):
Ich war geschockt, als ich den Test das erste Mal machte! Wie konnte ich das Offensichtliche nur so dermaßen übersehen? Übrigens: Man fand über das Eye-Tracking-Verfahren sogar heraus, daß Menschen bis zu einer ganzen Sekunde lang den Gorilla direkt ansahen, ihn aber dennoch nicht registrierten (zum Experiment und zur Unaufmerksamkeitsblindheit vgl. auch hier und hier):
Dieser (auch Bergson-Filter genannte) Mechanismus sorgt u. a. dafür, daß wir uns mit ganzer Aufmerksamkeit einer Sache widmen können, ohne uns ablenken zu lassen. Das kann eine überlebensnotwendige Eigenschaft sein, manchmal jedoch entgehen uns dadurch Dinge, die wir bemerken sollten. Und Menschen tendieren dazu, (sich) nur die Ereignisse zu (be)merken, in denen ihre Annahmen bestätigt werden … und schließen daraus meist auch noch auf eine Gesetzmäßigkeit.
Wer mehr darüber wissen möchte, kann sich mit so beunruhigenden Themen wie Erinnerungsverfälschung, Gedächtnisimplantation und Konfabulation beschäftigen.
Die gezielte Aufmerksamkeitslenkung wird nicht nur von Psychologen und Soziologen erforscht und von elitären Zirkeln als Instrument zur Meinungsbildung und zum Machterhalt eingesetzt – sie ist auch eines der wichtigsten Mittel von Bühnenzauberern und Mentalisten. Das beklemmendste Beispiel, das ich in diesem Bereich jemals gesehen habe, ist „The Dummy“, in dem der berühmte britische Illusionist Derren Brown es wahrhaft schafft, daß ein Opfer seiner Show sich mit einer willenlosen Bauchrednerpuppe identifiziert!
Ich frage mich, durch welche Suggestionen wir kollektiv glauben gemacht werden, wir wären schuldbeladene, hilflose, sterbliche Wesen …
Denn das Ganze funktioniert ja nicht nur bei Einzelpersonen! Mein Englischprofessor erzählte uns, daß die Menschen zu Shakespeares Zeit gewissermaßen „glaubten“, was sie auf der Bühne sahen – nicht im wörtlichen Sinn, aber doch in etwa so, wie Kinder „glauben“, was sie beim Kasperltheater sehen: Es ist ihnen schon bewußt, daß es eine Bühne ist, aber dennoch fiebern sie so mit dem Geschehen mit, daß sie vergessen, nur einer Aufführung beizuwohnen. Und so wie die Kinder dem Kasperl zurufen, sich vor dem Krokodil in acht zu nehmen, konnte es durchaus geschehen, daß ein Zuschauer im Elisabethanischen Zeitalter den Darsteller von Julius Cäsar durch lautes Zurufen warnte, daß er ermordet werden solle.
Das kommt heutzutage niemandem mehr in den Sinn. Sollte man meinen. Und dennoch funktionieren sogenannte Reality-Shows im Fernsehen, von denen man annehmen sollte, daß die Bevölkerung begriffen hat, daß sie gescripted wurden. So weit sind wir offenbar noch nicht entfernt von der naiv-kindlichen Sichtweise auf das, was sich direkt vor unseren Augen abspielt (immerhin: das Theater geht auf kultische Handlungen zurück). Ich frage mich, wann wir als Gemeinschaft so weit sind, das zu entlarven, was wir Realität nennen? Könnte das eine Aufgabe für magisch selbstermächtigte Individuen sein: Anderen dabei zu helfen, die Welt offenherzig und authentisch als Möglichkeit wahrzunehmen, sich selbst und die anderen als Ausdruck das All-Einen zu erfahren?