Guru, my arse!

Vor zehn Jahren verbrachte ich einige Zeit im Ashram von Maha Avatar Babaji in Nainital, Indien. Ich erhielt dort mehrere Segnungen, eine Einführung in den Kriya Yoga und quälte mich in den Schneidersitz, bis sie Mitleid mit mir hatten und mir einen wackligen Stuhl zur Verfügung stellten (die längste Zeit meines Aufenthalts war ich der einzige Westler dort).

Babaji war mir extrem sympathisch, weil er trotz seiner überragenden Fähigkeiten nicht weltfremd war – im Gegenteil: Ich erlebte ihn, gerade auch im privaten Rahmen wie beim Essen mit engen Freunden, als umgänglichen und scherzenden Gastgeber, und im Umgang mit den täglich eintreffenden Pilgern als Heiler und gebildeten Lehrer mit weitblickender Meinung, klar in seiner Ablehnung bestimmter politischer Verhältnisse und dennoch immer sehr, sehr humorvoll … jemand, dem ich mit großer Achtung und Herzlichkeit zugleich begegnen konnte.

Immer wieder werde ich gefragt, was denn die wichtigste Erfahrung in seiner Gegenwart für mich war. Schließlich beobachtete ich dort Spontanheilungen am laufenden Band und hatte mehrere unvermittelte Einheitserlebnisse; außerdem las Babaji hat mehr als einmal buchstäblich meine Gedanken und zeigte mir Phänomene, für die ich bis heute keine Erklärung habe. Dennoch sticht ein Ereignis besonders hervor – und das erzähle ich dann gerne:

Eines Morgens nach dem Aufstehen saß ich wie üblich vor seinem Zimmer, ohne bestimmten Plan. Es gab nichts zu tun. Normalerweise würde mir da recht schnell langweilig werden, das war hier aber nicht der Fall. Ich wartete einfach gemütlich darauf, was sich ergab. Irgendwann ging die Tür auf und Babaji erschien in Unterhemd und Pyjamahose, kratzte sich ungeniert am Hintern und meinte, er müsse jetzt mal ordentlich scheißen gehen; er verschwand im angrenzenden Raum, aus dem man ihn bald duschen und dabei lauthals singen hörte. – Ich bin so dankbar dafür, einen Menschen aus Fleisch und Blut erlebt zu haben (Babaji rauchte auch und kaute gerne Betelnüsse), weil es den letzten Rest esoterisch geprägter Illusion entzauberte, die ich über Gurus vielleicht noch in mir trug. Ich find’s ja um so cooler, daß all diese wundervollen Dinge nicht von einem abgehobenen Asketen vollbracht wurden, sondern von einem so dermaßen menschlichen Meister!

Stichwort Entzauberung: Dazu kann ich zwei hervorragende Dokumentationen empfehlen, Guru und David wants to fly, beide aus dem Jahr 2010.

Während solche Geschichten auf einen Teil der New Age-Szene geradezu befreiend wirken, lösen sie beim anderen Irritation, Desillusionierung und Wut aus: Der Guru – oder genauer gesagt, die überhöhte Vorstellung, die man auf ihn projiziert hatte – entpuppt sich als fehlerhaft! Er entspricht nicht mehr dem Klischee, das man sich von ihm gemacht hatte. Oh, welch Frevel.

Keine Ahnung, woher all diese ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vorannahmen kommen, aber es gibt scheinbar eine ganze Reihe von Dingen, die ein spiritueller Lehrer NICHT darf, darunter:

  • Rauchen
  • Faulenzen
  • Zornig sein
  • Fleisch essen
  • Krank werden
  • Drogen konsumieren
  • Einen über den Durst trinken
  • Sich irren oder seine Meinung ändern
  • Über makabre oder abartige Witze lachen
  • Comics lesen und Horrorfilme schauen
  • Sex haben (schon gar keinen „schmutzigen“)

Meiner Meinung nach sagt das wenig über authentische Spiritualität, sondern viel mehr über unsere moralistischen Vorstellungen über sie aus. Die Idee, ein Guru müßte über „irdische Dinge“ „erhaben“ sein, drückt nicht nur eine dualistische Mißachtung dieser „irdischen Dinge“ aus, sondern setzt auch spirituelle Lehrer unter gewaltigen Druck, ihre Menschlichkeit zu negieren. Vielleicht lassen sie sich auch oft genug unter Druck setzen, wer weiß … vielleicht hängen sie ja selbst diesen Vorstellungen an, wie ein „Meister“ zu sein hätte.

„Plötzlich meinen sie, sie müßten sich auf eine gewisse Weise verhalten – weise, intelligent, weißes Licht nur so von ihnen heruntertropfend, voller Segnungen und erleuchteten Sprüchen. Überhaupt nicht! Keineswegs! Der echte spirituelle Lehrer, die wahre spirituelle Lehrerin, die echten spirituellen Arbeiter und Arbeiterinnen sind sehr menschlich, weil sie davor keine Angst haben.“

(Adamus Saint-Germain, Lebe deine Göttlichkeit. Empfangen von Geoffrey und Linda Hoppe, Ansata, München 2011, S. 298.)

Ich nehme an, daß diese überholten Auffassungen in einem Paradigma der Trennung entstehen, welches besagt, daß wir grundsätzlich getrennt wären: vom Göttlichen, von der Natur, von einander. Darauf folgen nach und nach dualistische, hierarchische, puritanische und schließlich unversöhnlich dogmatische Haltungen. So führt auch eine der gängigsten Etymologien das Wort Guru zurück auf die Sanskrit-Silben गु gu (Schatten) und रु ru (Licht), was vielerorts zu traditionellen Deutungen als „jemand, der von den Schatten ins Licht führt“ oder „jemand, der die Dunkelheit (des Nichtwissens) vertreibt“ beigetragen hat. Das erscheint mir – neben anderen nicht zu vernachlässigenden Gesichtspunkten (vgl. hier) – zu linear gedacht. Warum nicht: „Jemand, der Dunkelheit und Licht vereint / deren Dualität transzendiert“? Warum nicht überhaupt im Sinne von Babajis juckendem Hintern anerkennen, daß alles gleich heilig ist? Oder unheilig? Je nachdem. Holy shit.

… und wem das Ganze hier nicht behagt, dem soll mit den Worten eines meiner Lieblingsgurus gesagt sein:


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