In den Augen einiger Zeitgenossen bin ich scheinbar nicht nur der Naßtraum jedes Therapeuten, es wurden mir darüber hinaus auch schon des öfteren schwarzmagische Intentionen unterstellt – ohne es genauer definieren oder belegen zu können. Der heutige Artikel dürfte Wasser auf diese Mühlen sein; also viel Spaß damit!
Manchmal stelle ich Menschen, die sich auf irgendeine Weise „auf dem spirituellen Weg befinden“, eine ganz unschuldige Frage … nämlich wofür sie denn das alles machen: Meditieren. Beten. Rituale. Sich mit ihrem inneren Kind und ihren Ahnen aussöhnen. Sich vegan ernähren. Sich energetisch schützen. Die Aura reinigen. Die Chakren öffnen. Die Kundalini wecken. Name und Wohnort numerologisch analysieren. Mit Geisthelfern kommunizieren. Krafttiere finden. Naturgeister rufen. Mantren rezitieren. Mudras und Asanas üben. Tantrakurse besuchen. Trancetanz. Pendeln. Alternative Therapieformen. Tarot- und Runensymbolik studieren. Kristalle programmieren. Die Jahreskreisfeste feiern. Den Göttern opfern. Schwitzhütten und Visionssuchen machen. Mit bewußtseinserweiternden Substanzen experimentieren. Luzides Träumen und außerkörperliches Reisen trainieren. Hypnose und Kampfkunst erlernen. Geomantische Störzonen neutralisieren. Trinkwasser beleben. Pyramiden aufstellen. Aufkleber mit Darstellungen heiliger Geometrie an allen möglichen Stellen anbringen. Kornkreise und Kraftplätze aufsuchen. Seinen Guru oder seinen Seelenpartner finden. Schlechtes Karma auflösen. Und so weiter. Wozu eigentlich?

Nach einem ersten verblüfften Schweigen erklärt man mir dann oft, daß es eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gäbe, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt … Okay, antworte ich, das ist ein wunderbares Shakespeare-Zitat, aber dessen Anschauung kann ich auch so nachvollziehen, ohne etwas zu praktizieren. Also nochmal: Weshalb tun wir all diese und ähnliche Dinge? Bald bewegt sich das Gespräch dann so gut wie immer in eine bestimmte Richtung, nämlich: um letztendlich erleuchtet zu werden / Samadhi zu erlangen / in die Einheit zurückzukehren / Satori zu verwirklichen – oder welche Bezeichnung auch immer dafür verwendet wird und was auch immer der Einzelne darunter verstehen mag. Das verbindende Element scheint zu sein, daß dieses Ziel auf jeden Fall in der (meist sehr weiten) Ferne gesehen wird; viele versichern mir sogar, daß es so gut wie unmöglich in dieser Inkarnation zu erreichen wäre. Aber mit ihrer spirituellen Praxis befänden sie sich immerhin auf dem Weg dorthin!

Nun bin ich so frech und dreh den Spieß in Heyoka-Manier um und sage: Leute, wir müssen gar nichts tun, um DAS zu erreichen. Wir sind DAS. Immer. Wir sind es schon!
Das, worauf wir uns konzentrieren, stärken wir (man nennt das selektive Aufmerksamkeit – schwangere Frauen sehen plötzlich überall nur noch Schwangere, wer sich ein neues Auto kauft, bemerkt wesentlich mehr Autos dieser Marke als sonst etc.) … und wenn wir der Meinung sind, Voraussetzungen erfüllen zu müssen, um uns an unsere Göttlichkeit zu erinnern, stärken wir meiner Erfahrung nach zwar die Voraussetzungen, kommen dem Erinnern selbst aber nicht unbedingt näher. Es kann sogar sein, daß wir dadurch die Illusion der Trennung nur noch verstärken.
Das beobachte ich zumindest in sehr vielen spirituellen Richtungen und religiösen Traditionen: Das Verschmelzen mit dem All-Einen wird zwar als letztliches Hochziel postuliert, und das immerwährende Streben danach als äußerst achtbar angesehen … aber die Idee auszusprechen, wir wären nie getrennt davon, weil unser wahres Wesen identisch mit dem All-Einen ist – das ist ketzerisch! Ich weiß, wovon ich rede. Als ich es wagte, diese Gedanken öffentlich darzulegen (vor einem Publikum, das sich teilweise schon jahrzehntelang mit Spiritualität befaßte), wurde ich dafür regelrecht angeschrieen.
So manches spirituelle Ego fühlt sich ja vielleicht auch aus nachvollziehbaren Gründen gekränkt: „Da hab ich mich die ganze Zeit mit alten Weisheitslehren beschäftigt und in Askese geübt und dann kommst du daher und behauptest, das wäre gar nicht nötig?! Wo kommen wir denn da hin?“ – Naja, wir kommen dorthin, wovon es heißt, daß es das oberste Geheimnis wäre, welches in Logen und Geheimbünden nur den höchsten Graden offenbart wurde: Homo Est Deus, der Mensch ist Gott. Das ist natürlich die ultimative Blasphemie, denn es ist das, was in der christlichen Mythologie (1. Buch Mose. 3,5) Eva von der Schlange versprochen wurde: „Ihr werdet sein wie Gott“, und zur Vertreibung aus dem Paradies führte.
Da ist eine über Jahrhunderte hindurch anerzogene, beinahe instinktive Furcht vor der Gleichsetzung des Menschlichen mit dem Göttlichen durchaus verständlich, ebenso wie die Überlegung, solche häretischen Gedanken nur absolut vertrauenswürdigen Menschen nach einem langen Schulungsweg zu offenbaren. Schließlich kam man für diese Ansichten vor noch gar nicht mal so langer Zeit auf den Scheiterhaufen. Ich trete dafür ein, daß diese Zeit vorbei ist und betone: Die inhärente Göttlichkeit allen, und damit auch des menschlichen Seins, ist nicht ein fernes Ideal – sie ist die grundlegende Prämisse! Auch in vielen magischen Überlieferungen gilt das Erkennen seines Wahren Willens, das Verschmelzen mit dem Willen des Universums, als Vollendung des Weges. In meinem eigenen Magiesystem steht dies nicht am Ende, sondern konstituiert im Gegenteil einen der wichtigsten Ausgangspunkte!
Und nein, es liegt mir fern, die Schönheit der alten Schriften oder die Faszination neuerer Formen der Esoterik zu schmälern … es geht mir bei all diesen Überlegungen um die zugrundeliegende Motivation, sich damit zu beschäftigen. Ich finde alle möglichen authentischen Erscheinungen individueller Spiritualität als deren kreativen Ausdruck wundervoll! Wenn sie als Möglichkeit gesehen werden, das eigene Selbst der Welt mitzuteilen und in ihr zu manifestieren … hey, fantastisch! Ich praktiziere ja selbst viele Formen der Spiritualität – und zwar weil ich DAS bin, aber nicht, um ES zu irgendwann zu erreichen.

In vielen Bereichen hat es sich inzwischen herumgesprochen, wie zielführend es ist, das Endergebnis vorwegzunehmen – beim Mentaltraining im Sport, bei den ‚Bestellungen beim Universum‘ oder beim Löffelbiegen … warum sollten wir nicht auch beim Thema Erleuchtung davon ausgehen? Das wäre ein radikaler Paradigmenwechsel – der von bisherigen Systemen natürlich als blasphemisch empfunden wird: Er hinterfragt den Glauben an religiöse Autorität und lineare Hierarchien und lehnt eine Kontrolle über Mechanismen wie Angst, Schuld und Trennung ab. Stattdessen erkennt Selbstermächtigung an, daß alles eins ist … und das bedeutet in der Konsequenz eben auch, daß wir nicht nur einen göttlichen Funken in uns tragen, sondern selbst göttliche Wesen SIND. Diese Philosophie finde ich z. B. wieder in der Neuen Spiritualität von Neale Donald Walsch, bei Eckhart Tolle und im Neo-Advaita. Und auch das folgende Channeling spricht mir aus tiefstem Herzen:
„Ich habe nichts mitzuteilen, denn das ist ja gerade ein Teil des Problems. Ihr denkt, ihr müsstet etwas tun, etwas lernen oder eure anderen amüsanten Übungen durchführen, das Singen und Meditieren …
Das ist ja die Schwierigkeit für viele spirituelle Wesen heutzutage. Sie meinen, sie müssten etwas Spirituelles tun oder leisten oder erreichen, wie noch einen Workshop, einen weiteren Kurs, ein Buch mehr, noch eine Botschaft […] Was jedoch wirklich amüsant ist: Es gibt nichts zu tun! Rein gar nichts!
Und, liebe Meister, das meine ich sehr ernst. Es gibt für euch nichts zu tun. Wie ihr das auch nennen wollt – Erwachen, Erleuchtung, Aufstieg –, es ist ein natürlicher Vorgang. Wenn ihr nur aufhören würdet, das manipulieren zu wollen und danach angestrengt zu suchen […].
Ich fordere euch auf, die spirituelle Schule zu verlassen. Keine Graduiertenschule. Keine weiteren spirituellen Trainings oder Lehrgänge. Ihr habt alles, was ihr braucht. Es ist geschafft. Es gibt nichts, worüber wir heute abend zu sprechen haben.
[…] Diese Art von Bewußtsein [der Glaube, noch mehr zu lernen zu haben und noch nicht ganz erleuchtet zu sein] hindert die Teile daran zusammenzufließen, sie verhindert, dass sich Synchronizitäten in eurem Leben ergeben, und es hält euch in einem Zustand der ständigen Suche fest.
Liebe Freunde, was wäre denn, wenn es nichts mehr für euch zu tun gibt? Wie würde das diesen Augenblick […] verändern? Wie würde sich der Rest eures Lebens verändern? Was wäre, wenn ihr hier heute nacht aus der Tür geht und euch selbst so sehr vertrauen würdet, so tief und liebevoll, dass ihr wüsstet, dass es nichts mehr für euch zu tun gibt?
Es sieht so aus, als ob ihr süchtig nach eurer spirituellen Suche seid. Trotz all der Gebete und Übungen und Techniken und was ihr sonst noch so unternehmt, ist es, als ob ihr eine Distanz zwischen euch und Gott aufrechterhalten wollt.
Liegt das daran, dass ihr nicht akzeptieren könnt, dass auch ihr Gott seid?“
(Adamus Saint-Germain, Lebe deine Göttlichkeit. Empfangen von Geoffrey und Linda Hoppe, Ansata, München 2011, S. 307-309)
Was wäre, wenn wir unsere Göttlichkeit voll und ganz akzeptierten? Inwiefern würde sich unser Leben verändern? Wäre dieses Spiel hier vielleicht erfüllt von wesentlich mehr Freude und Leichtigkeit?